TOP 1: Newsletter-Serie zu unserer Leitlinienarbeit

Heute: S3-Leitlinie „Zwangsstörungen“

Liebe Mitglieder,
heute berichtet unser DÄVT-Vorstandsmitglied (Schatzmeister) Herr Dr. med. Ulrich Stattrop über die Neufassung der S3 Leitlinie Zwangsstörungen. Er ist Oberarzt der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee, Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Facharzt für Neurologie.
Ergänzend noch folgende Daten zu seinem beruflichen Lebenslauf: 1995-1999 neurologische Forschungs- und AIP-/Assistenzarzttätigkeit in den Kliniken Schmieder Allensbach, 2000-2002 Assistenzarzt Neurologie im Kreiskrankenhaus Lüdenscheid, 2002-2008 Assistenzarzt im BKH Augsburg, seit 2008 Oberarzt in der Schön Klinik Roseneck. Seine Schwerpunkte sind Tinnitus und Zwangsstörungen. Herr Dr. Stattrop war an der Erstellung der ersten S3 Leitlinie Zwangsstörungen als Mitglied der Steuergruppe beteiligt, bei der Aktualisierung war er Vertreter der DÄVT in der Konsensusgruppe.
Hier zitieren wir seinen

Kurzbericht zur ersten Revision der AWMF S3 Leitlinie „Zwangsstörungen“:

Im Juni 2022 wurde die aktualisierte S3 Leitlinie „Zwangsstörungen“ veröffentlicht. Ebenso wie bei der Erstellung der ersten Version der S3-Leitlinie (2013), damals noch unter der Leitung von Herrn Prof. Dr. Fritz Hohagen, fungierte die DGPPN als federführende Fachgesellschaft. Beim aktuellen Update, dessen Projektleitung Herr Prof. Dr. Ulrich Voderholzer übernommen hat, waren neben der DGPPN 9 weitere AWMF-Gesellschaften, darunter die DÄVT, sowie 22 sonstige Fachgesellschaften und Organisationen beteiligt.

Auch wenn die (kognitive) Verhaltenstherapie bekanntlich bei zahlreichen psychischen Erkrankungen ein evidenzbasiertes Therapieverfahren darstellt und somit Eingang in eien Vielzahl von AWMF-Leitlinien gefunden hat, so kommt ihr doch gerade in der Behandlung der Zwangsstörung eine herausragende Position zu. So heißt es nicht nur weiterhin (nahezu unverändert)

(Originaltext der LL kursiv und eingerückt)

  • Bei einer Zwangsstörung soll eine störungsspezifische Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) einschließlich Exposition als Psychotherapie der ersten Wahl angeboten werden. [nur der Zusatz „und Reaktionsmanagement“ hinter „Exposition“ ist entfallen]

sondern neu auch explizit

  • Besteht die Wahl zwischen der Behandlung mit SSRI oder Clomipramin und der Verhaltenstherapie (VT) mit Exposition, dann sollte die (K)VT bevorzugt werden.

Die Indikationen für eine Monotherapie mit Psychopharmaka sind begrenzt

  • Eine Monotherapie mit Medikamenten ist indiziert, wenn
    • Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) abgelehnt wird oder wegen der Schwere der Symptomatik keine KVT durchgeführt werden kann
    • KVT wegen langer Wartezeiten oder mangelnder Ressourcen nicht zur Verfügung steht oder
    • damit die Bereitschaft des Patienten, sich auf weitere Therapiemaßnahmen (KVT) einzulassen, erhöht werden kann.
  • Eine Monotherapie mit Medikamenten kann auf Wunsch/Präferenz des Patienten und/oder bei positiver Erfahrung des Patienten mit gutem Ansprechen auf eine medikamentöse Therapie in der Vergangenheit angeboten werden.

Bzgl. der Kombination aus Psychotherapie und Psychopharmakotherapie ist die Indikation für eine ergänzende Psychopharmakotherapie genau definiert,

  • Die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) mit Exposition kann mit dem Ziel eines schnelleren Wirkungseintritts und/oder bei Vorliegen einer komorbiden, mindestens mittelgradigen depressiven Episode durch eine leitliniengerechte Psychopharmakotherapie mit SSRI oder Clomipramin ergänzt werden

während eine ergänzende Kognitive Verhaltenstherapie weiterhin praktisch immer empfohlen wird:

  • Die psychopharmakologische Therapie einer Zwangsstörung mit SSRI/Clomipramin soll mit einer Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) mit Expositionen kombiniert werden.

Zwei weitere neue Empfehlungen betreffen die KVT im Hinblick auf hochfrequente Expositionen bzw. das stationäre Setting:

  • Besteht die Möglichkeit der Durchführung hochfrequenter Exposition (Blockexposition an unmittelbar konsekutiven Therapietagen; mindestens aber zwei lange Expositionseinheiten pro Woche), sollte diese Anwendung genutzt werden.
  • Stationäre Therapie, die KVT mit Exposition im Rahmen multimodaler, für Zwangsstörungen spezialisierter Therapieprogramme anbietet, ist bei Zwangsstörungen wirksam und erzielt hohe Effektstärken.

Eine geänderte Empfehlung betrifft KVT im Gruppensetting. Während diese bislang nur als wirksam konstatiert wurde, wird sie nun empfohlen:

  • KVT im Gruppensetting sollte, insbesondere wenn Einzeltherapie nicht verfügbar ist, angeboten werden.

Während es bislang nur 2 Statements dahingehend gab, dass medienbasierte (Internet, Telefon) KVT-Behandlungsangebote wirksam sein können und bei begrenztem Behandlungsangebot, zur Überbrückung von Wartezeiten oder zur Nachbetreuung verfügbar gemacht werden sollten, enthält die aktualisierte Leitlinie zumindest für die beiden erstgenannten Fälle eine evidenzbasierte Empfehlung:

  • Bei begrenztem Behandlungsangebot oder zur Überbrückung von Wartezeiten sollten KVT-basierte Therapieformen (inkl. Selbsthilfe) über das Internet verfügbar gemacht werden.

3 neue Empfehlungen betreffen die KVT als internetbasiertes Behandlungsangebot bzw. per Videosprechstunde/-behandlung:

  • Es gibt Hinweise, dass die Effekte internetbasierter kognitiv-verhaltenstherapeutischer Behandlungsangebote mit zunehmendem Therapeutenkontakt gesteigert werden können.
  • Sofern die Durchführung von KVT nicht im direkten persönlichen Kontakt mit dem Therapeuten möglich ist (z.B. aus organisatorischen Gründen, wegen großer Distanzen, pandemiebedingt, etc.), kann die Durchführung der KVT per Videosprechstunde/-behandlung erwogen werden.
  • Auch bei einer hauptsächlich im persönlichen Kontakt durchgeführten KVT kann Exposition per Videosprechstunde/-behandlung oder unter telefonischer Begleitung erwogen werden, wenn spezielle Expositionen in Therapeutenbegleitung nicht im häuslichen Umfeld möglich sind.

Eine relevante Änderung betrifft die Behandlungsdauer: Während KVT nach den bisherigen Empfehlungen bis zum Erreichen einer klinischen Besserung (Y-BOCS-Reduktion um mindestens 50 %) fortgeführt werden sollte, wird nun das Erreichen einer klinischen Remission angestrebt:

  • Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) mit Exposition sollte unter der Voraussetzung eines Ansprechens auf dieses Vorgehen bis zum Erreichen einer klinischen Remission fortgeführt werden (Y-BOCS-Gesamtwert bei Therapieende <12, sowie Verbesserung der Lebensqualität).

Eine Empfehlung zur Förderung und Überprüfung der Adhärenz wurde zwar neu in die Leitlinie aufgenommen, sollte für Verhaltenstherapeuten aber eigentlich selbstverständlich sein:

  • Therapeuten sollen im Verlauf einer Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) die Adhärenz von Patienten (Umsetzung vereinbarter Expositionsübungen zwischen den Therapiesitzungen) fördern und überprüfen, um ein gutes Therapieergebnis sicherzustellen.

Sonstige Psychotherapien sind gegenüber der KVT deutlich nachrangig:

So weisen neue Empfehlungen darauf hin, dass bestimmte achtsamkeitsbasierte bzw. metakognitive Therapieansätze, teilweise sogar nur bei nicht ausreichender Response auf KVT, in Erwägung gezogen werden können,

  • Achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie als Gruppenangebot (MBCT) kann zur Behandlung von Zwangsstörungen in Erwägung gezogen werden, wenn zuvor keine ausreichende Response auf (K)VT erfolgt ist.
  • Achtsamkeitsbasierte Exposition in der Gruppe kann zur Behandlung von Zwangsstörungen in Erwägung gezogen werden
  • Metakognitive Therapieansätze können zur Behandlung von Zwangsstörungen in Erwägung gezogen werden.

inferenzbasierte Therapie bei eng umschriebenen Indikationen eingesetzt werden kann,

  • Inferenzbasierte Therapie kann bei Patienten mit wenig Einsicht in die Irrationalität der Zwangsinhalte eingesetzt werden.

und für weitere Psychotherapieverfahren keine Wirksamkeitsnachweise vorliegen

  • Für eine Reihe von weiteren Therapievarianten (EMDR, Schematherapie, Assoziationsspaltung, Sättigungstherapie, DIRT) existieren keine hinreichenden Wirksamkeitsnachweise.

Bei den Therapieverfahren, die zwar eingesetzt werden, für die aber keine Evidenz für ihre Wirksamkeit aus randomisierten kontrollierten Studien vorliegt, werden neben psychoanalytisch neu auch tiefenpsychologisch begründete Therapieverfahren genannt:

  • Psychoanalytisch und tiefenpsychologisch begründete Psychotherapieverfahren werden zur Therapie von Patienten mit Zwangsstörungen eingesetzt. Für diese Verfahren liegt keine Evidenz für ihre Wirksamkeit aus randomisierten kontrollierten Studien vor.

Ergänzende psychosoziale Therapien werden erstmals in einem eigenen Kapitel behandelt. Außer Ergotherapie wird neu auch Sport- und Bewegungstherapie empfohlen:

  • Sport- und Bewegungstherapeutische Interventionen wie z.B. Ausdauertraining können eine sinnvolle Ergänzung von leitliniengerechter Therapie sein.

Während bislang nur empfohlen wurde, dass Patienten mit Zwangsstörung mit einer komorbiden schweren depressiven Episode initial, d.h. vor der Behandlung der Zwangsstörung, eine leitliniengerechte Behandlung der depressiven Störung erhalten sollten, wurde diese Empfehlung nun deutlich auf andere Komorbiditäten erweitert:

  • Patienten mit Zwangsstörung mit einer komorbiden psychischen Störung (z.B. schwere Depression, Essstörung, Abhängigkeitserkrankung, Borderline-Störung, Traumafolgestörung), die die Behandlung der Zwangsstörung mit KVT erheblich erschwert, sollten initial eine leitliniengerechte Behandlung der komorbiden Störung vor der Behandlung der Zwangsstörung erhalten.

Das Kapitel zur Psychopharmakotherapie wurde natürlich ebenfalls überarbeitet, erhält aber keine richtungsweisenden neuen Empfehlungen. Auf die Darstellung der (bisherigen) Empfehlungen soll an dieser Stelle verzichtet werden. Im Kontext der Verhaltenstherapie soll nur eine explizite (Nicht-) Empfehlung erwähnt werden:

  • Die medikamentöse Augmentation einer Expositionstherapie mit D-Cycloserin (off-label) verstärkt nicht die Wirkung von Expositionen und soll nicht angewendet werden.

Im Kapitel zu biologischen, nicht pharmakologischen Verfahren in der Behandlung von Patienten mit therapierefraktären Zwangsstörungen wird die bisherige Empfehlung, dass TMS wegen fehlender Wirksamkeit nicht eingesetzt werdensoll, korrigiert:

  • Repetitive Transkranielle Magnetstimulation (rTMS) kann bei Patienten mit Zwangsstörung mit unzureichendem Ansprechen auf Verfahren der ersten Wahl mit dem Ziel einer kurzfristigen Symptomlinderung angewendet werden.

Weitere modifizierte oder ergänzte Empfehlungen betreffen die tiefe Hirnstimulation, die Behandlung im Kontext von Schwangerschaft und Stillzeit sowie schließlich die Berücksichtigung kultur- und migrationsspezifischer Faktoren. Da diese keine wirklich überraschenden Neuerungen beinhalten und für Verhaltenstherapeuten von nachgeordneter Relevanz sind, wird auf eine ausführliche Darstellung an dieser Stelle verzichtet.

Für die Zwangsstörung, die lange als die „heimliche Krankheit“ galt, heutzutage aber nicht zuletzt durch den routinemäßigen Einsatz der in der Leitlinie genannten Screeningfragen hoffentlich nicht mehr übersehen wird, stehen mittlerweile wirksame Therapieverfahren zur Verfügung. Ganz vorrangig ist dabei die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) zu nennen, an der, was uns als DÄVT ja nur freuen kann, auch in der aktualisierten Leitlinie eigentlich kein Weg vorbei führt. Unsere Aufgabe ist es, dafür Sorge zu tragen, dass Patienten, die sich in Verhaltenstherapie begeben, auch wirklich störungsspezifische (kognitive) Verhaltenstherapie erhalten, einschließlich der für den Behandlungserfolg so wichtigen Expositionen.

Auch wenn in dieser Übersicht nur kurz auf die Psychopharmakotherapie und andere biologische Verfahren eingegangen wird, so können diese doch im Einzelfall für die Behandlung relevant sein. Neben psycho-/verhaltenstherapeutischer bedarf es also auch ärztlicher Expertise, um wirklich leitlinienkonform behandeln zu können. Als ärztliche Verhaltenstherapeuten sind wir hier bestens aufgestellt!

Die vollständige Leitlinie findet sich auf der Homepage der AWMF (https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/038-017). Neben der Langversion und einer Kurzversion (mit allen Empfehlungen) gibt es dort auch einen Vergleich zwischen alten und neuen Empfehlungen.

Herzlicher Dank an Herrn Stattrop!
Im Namen des gesamten Vorstands grüßt Sie herzlich
Dr. med. Beate Deckert
Präsidentin

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